Francesca Marsili

Nostalgischer Blick auf 2019

Für diejenigen, die in der Forschung tätig sind, wird 2020 ein ungewöhnliches Jahr ohne Konferenzen, Workshops und Kongresse sein. Einige von ihnen sind online gegangen; es wird jedoch viel verpasst, wenn persönliche Gespräche und Kontakte von Angesicht zu Angesicht fehlen. Ich blicke mit ein wenig Wehmut auf das Jahr 2019 zurück, als die BAW mir die Gelegenheit gab, an zwei der wichtigsten Konferenzen im Bereich der angewandten Probabilität im Bauwesen teilzunehmen: die International Conference on Application of Statistics and Probability in Civil Engineering (ICASP) in Seoul und die European Safety and Reliability Conference (ESREL) in Hannover. Die erste Konferenz findet in der Regel alle vier Jahre in Asien oder in Amerika statt, obwohl sie von internationalen Wissenschaftlern aus aller Welt besucht wird, die auf den Gebieten Sicherheit, Risiko, Resilienz und Zuverlässigkeit ziviler Infrastrukturen forschen. Sie gibt einen Überblick über den Stand der Forschung in Ländern, die von Naturkatastrophen und Klimawandel stark betroffen sind. Die Aufmerksamkeit wird auch auf die Alterung der zivilen Infrastrukturen gerichtet, ein Problem, das endlich als eine der größten Herausforderungen moderner Gesellschaften erkannt wurde. Die zweite Konferenz findet jedes Jahr in Europa statt: Die Themen sind ähnlich der Erstgenannten, aber der Schwerpunkt liegt auf Systemen wie Kernkraftwerken oder Stromnetzen. Techniken der künstlichen Intelligenz sind in diesem Bereich bereits implementiert, aber es finden oft harte Debatten über die Wirksamkeit solcher Ansätze statt.
In Seoul hatte ich die Gelegenheit Hiba Baroud, Assistenzprofessorin für Bau- und Umweltingenieurwesen und Littlejohn Dean’s Faculty Fellow an der Vanderbilt University (Nashville, USA), zu treffen. Sie kam auf mich zu und war überrascht, eine Forscherin auf dem Gebiet der Resilienz von Wasserstraßeninfrastrukturen zu treffen, dem Thema ihrer Doktorarbeit. Es versteht sich von selbst, dass sich daraus sofort eine Freundschaft entwickelte!
Dr. Baroud hat an der University of Oklahoma in Industrial and System Engineering promoviert. Sie hat einen Master of Mathematics vom Department of Statistics and Actuarial Science an der University of Waterloo, wo sie sich in ihrer Forschung auf die Anwendung von Statistiken, insbesondere Zeitreihenmodellen, zur Analyse von Finanzdaten konzentrierte. Davor erwarb sie ihren B.S. in Aktuarwissenschaften an der Notre Dame University, Libanon.
Ihre Arbeit beschäftigt sich mit Datenanalyse und statistischen Methoden zur Messung und Analyse von Risiko, Zuverlässigkeit und Resilienz in kritischen Infrastruktursystemen. Insbesondere hat sie datengesteuerte Bayes’sche Methoden untersucht, um das Auftreten von Störereignissen in Infrastruktursystemen vorherzusagen und den Wiederherstellungsprozess des physisch gestörten Systems sowie indirekt betroffener Systeme stochastisch zu modellieren. Sie entwickelte auch Entscheidungsanalyse-Tools, um verschiedene Strategien zur Vorbereitung und Wiederherstellung von Investitionen für den Schutz ziviler Infrastrukturen zu bewerten.
Sie hat mehrere Publikationen verfasst und mitverfasst, von denen einige für unser Forschungsprojekt über die Resilienz der westdeutschen Kanäle (PREVIEW) relevant sind. Wir trafen uns wieder bei der ESREL in Hannover, und ich lud sie ein, die BAW zu besuchen und einige ihrer Ergebnisse in einer informellen Diskussion zu erläutern, insbesondere die Ergebnisse zur Resilienz und Risikobewertung und zur Entscheidungstheorie
Dr. Baroud besuchte zunächst die wasserbaulichen Versuchshallen der BAW mit den physikalischen Modellen. Sie war beeindruckt von den Möglichkeiten der BAW, dem Maßstab der Modelle und der Komplexität der Untersuchungen. Sie freute sich auch über die freundliche Atmosphäre in den Hallen und die Kollegen vor Ort, die gerne ihre Fragen beantworteten.
Nach dem Besuch der Versuchseinrichtungen folgte eine Diskussion, zu der alle Projektpartner von PREVIEW und die Kollegen von B4 eingeladen waren. Die Themen, die in der Sitzung besonders diskutiert wurden, waren die Maßnahmen zur Risiko und Resilienz des Infrastrukturnetzes und die multikriterielle Entscheidungsfindung bei gegebenen Resilienzmaßnahmen.
Schließlich gab uns Dr. Baroud einen Einblick in ihr neues Projekt über die Binnenschiffbarkeit und die Binnenschifffahrt in Bangladesch. Das Wasserstraßensystem in Bangladesch ist ein komplexes Netz, das durch das Ganges-Brahmaputra-Meghna Delta repräsentiert wird. Die Wirtschaft des ganzen Landes hängt stark vom Wasserstraßensystem ab, jedoch ist die Schiffbarkeit des Systems durch mehrere Faktoren gefährdet, wie z.B. den Transport von Sedimenten und Erosionen, die oft mit der globalen Erwärmung und dem Klimawandel zusammenhängen. Dr. Baroud und die anderen Projektbeteiligten konzentrierten sich zunächst auf die Entwicklung einer Karte, die die wichtigsten Wasserstraßen und Binnenhäfen von Bangladesch darstellen soll. Diese Aufgabe wurde mit Hilfe verschiedener Datenquellen wie Satellitenbildern, Volkszählungs- und Navigationsdaten gelöst. Laut Dr. Baroud muss Bangladesch definitiv mehr Kanäle aufbauen und die Baggertechniken verbessern, um die Wasserwege besser zu verwalten. Solche Entscheidungen können aus Ihrer Sicht nicht ohne wissenschaftliche und fundierte Forschung getroffen werden.
Weitere Informationen über die von Dr. Baroud durchgeführten Forschungsprojekte finden Sie auf ihrer persönlichen Homepage: https://engineering.vanderbilt.edu/bio/hiba-baroud
Ich hoffe, dass ich bald die Gelegenheit haben werde, Hiba wieder zu treffen und andere begeisterte Forscher wie sie kennen zu lernen. Dies ist nämlich auch ein wesentlicher Teil der Forschungsarbeit.