Ein wichtiger und immer wieder besonderer Bestandteil der Aufgabe, sich mit Gewässern bestmöglich zu arrangieren, um sie auch als Verkehrsinfrastruktur nutzen zu können, ist das Be- und Erfahren einer Strecke. Auf entsprechenden Reisen erhält man ein besseres Verständnis von den lokal wirkenden Prozessen und übergeordneten Zusammenhängen sowie einen Eindruck von praktischen Fragestellungen und den Größenordnungen vor Ort.
Im Zuge solcher Bereisungen (z. B. Taucherglockenschiff-Kampagne 2020, Messmethodenvergleich 2021) stellte sich mir immer wieder die Frage, ob man die Bundeswasserstraßen auch aus Perspektive der Nutzung, also der Binnenschifffahrt kennenlernen könnte. Man kann – beispielsweise auf Frachtbinnenschiffen wie der M. S. Hanse, die mit Gästekabine und Mitnahmeangebot ausgestattet sind.
Nach einem knappen Jahr Vorlauf bei der Terminvereinbarung war es Ende Oktober 2022 so weit: Zwei Tage vor Beginn des angepeilten Zeitfensters kam der Anruf, an welchem Tag und wo in etwa der Zustieg erfolgen soll. Einen Tag vorher gab es noch eine konkrete Uhrzeit und eine detaillierte Ortsbeschreibung. Am Sonntag, 30.10.2022 um ca. 14:00 Uhr erfolgte dann der kleine Schritt von der linken Mauer des unteren Vorhafens des Schiffshebewerks Scharnebeck (Elbe-Seitenkanal bei Lüneburg) an Bord der M. S. Hanse, die als Verband mit dem Schubleichter Jale rund 80 Container nach Hamburg brachte.
Nach einer Begrüßung und der Sicherheitsunterweisung durch den Kapitän Henning Jahn sowie dem Angebot, mich unter Berücksichtigung der entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen frei auf dem Schiff zu bewegen, war ich als „Zusatzfracht“ aufgenommen, und Schiff und Besatzung fuhren mit ihrem Tagesgeschäft fort (Abb. 1).
Nach einem kurzen Ankommen und Orientieren in der großzügigen und komfortablen Gästekabine (inkl. kompletter Küche, da Selbstversorgung angesagt ist) ging ich für einen ersten Eindruck den Verband in seiner ganzen Länge bis zum Bug ab. Dort herrschte eine faszinierende Ruhe: Die zu diesem Zeitpunkt laufenden Maschinen waren weit weg und somit nicht zu hören, das Schiff glitt vermeintlich reibungslos und fast lautlos durch Wasser und Landschaft. In so einer Situation kann die Zeit leicht mal vergessen werden, so dass ich den restlichen Elbe-Seitenkanal (Abb. 2) und über eine lange Strecke auch die Elbe (Abb. 3) als Galionsfigur genoss.
Alle weiteren Einzelheiten des Aufenthalts auf der M. S. Hanse hier chronologisch zu präsentieren, würde für die Leserschaft zu langatmig – deshalb im Folgenden ein paar Anekdoten, angereichert mit Bildern.
Vorbei mit der ruhigen Fahrt war es dann recht bald im tidebeeinflussten Teil der Elbe unterstrom Geesthacht an den in Hamburg angesteuerten Containerterminals (Abb. 4, Abb. 5): Sobald ein Liegeplatz verfügbar war und das Personal sowie die Gerätschaften der Terminal-Logistikkette einsatzbereit waren, wurde das Schiff beim Lösch- und Ladevorgang Teil eines von außen betrachtet chaotisch wirkenden Treibens aus Containerbrücken, Portalhubwagen und allen anderen möglichen Vehikeln, sowie einer ganz eigenen Kakophonie aus akustischen Warnsignalen, Motorengeräuschen, Zurufen und metallischem Knirschen und Stoßen.
Mit einem neuen Containersatz bestückt hieß es dann Strecke machen, also Abfahrt um 06:00 Uhr (Abb. 6) in die Norderelbe (Abb. 7) und hoffen auf zügiges „Treppensteigen“ an den zwei Stufen im Elbe-Seitenkanal (Abb. 8), namentlich Schiffshebewerk Scharnebeck (Abb. 9) und Schleuse Uelzen (Abb. 10). Auf den langen Stücken dazwischen boten sich einige Gelegenheiten, sich von der Mannschaft die aufwändige Schiffstechnik zeigen sowie die nicht minder aufwändigen Arbeiten auf dem Schiff erklären zu lassen, wie z. B. das Entrosten und Streichen kleinster unzugänglicher Winkel, Festmachen mit regennassen Tauen bei winterlicher Kälte, Kontrollgänge und Wartungsarbeiten im sehr beengten Raum zwischen den beiden Schiffshüllen, Wartung und Pflege der Maschinen, Leitungen, etc. pp.
Fragen zum hohen unternehmerischen Risiko, dem nötigen Unternehmergeist, den organisatorischen Aufgaben und den vielfältigen notwendigen Kenntnissen in der Binnenschifffahrt wurden im Steuerstand (Abb. 11) diskutiert. Vor allem die Kanalfahrt ist dabei ein wörtlich zu nehmendes Auf und Ab, weil vor jeder Brückenunterquerung der Steuerstand abgesenkt werden muss. Als wenig routinierter Gast fläzt man sich dabei recht schnell in den Stuhl, da man schwer einschätzen kann, um wie viel das Dach des Steuerstandes mehr absinkt als der Fußboden, wodurch Bilder von Schrottpressen vor dem geistigen Auge auftauchen, die nicht von dem Umstand entschärft werden, dass es (nur) für den Kopf des Kapitäns eine Aussparung in der Decke gibt. Bei Brückenunterquerungen bestätigt sich wieder, dass Technik hilfreich ist, wenn sie funktioniert: Online-IENC-Karten mit Echtzeit-AIS-Daten und Radar sind eine gute Sache, wenn man nicht gerade im Funkloch in einer Kurve unter einer Metallbrücke durchfährt. Wenn die Hilfsmittel nicht helfen, zählen in letzter Konsequenz doch wieder Ausbildung, Fähigkeiten, Erfahrung, Streckenkenntnis.
Insgesamt bleiben viele und intensive Eindrücke von der Reise (Abb. 12). Auffallend war vor allem die sehr heterogene Verteilung der Arbeitszeit über den Tag und die Woche, losgelöst von der für viele Menschen normalen Aufteilung in Werktage und freie Tage. Auch das weite Spektrum von hektisch-lauten zu ruhigen Situationen fasziniert. Wahrzunehmen waren auch ein Ehrgeiz der Binnenschifffahrt und gleichzeitig ein Druck auf diese, möglichst viel Ladung möglichst schnell zu transportieren – was unterstreicht, dass sich Bemühungen um eine reibungslose und effiziente Nutzbarkeit der Bundeswasserstraßen lohnen.
Abschließend geht mein Dank an die Mannschaft (Micha und Adrian) und die Partikuliersfamilie Jahn für die Möglichkeit, auf der M. S. Hanse mitfahren und viele Einblicke in das Geschäft der Frachtbinnenschifffahrt gewinnen zu können!
Fürs Gegenlesen geht ein weiterer Dank an Lisa Scharf und Fabian Beimowski.
Verfasst von Martin Hämmerle
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